Die Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit 1810
Zusammenfassung
Mit dem Gesetz über die Einführung einer Gewerbesteuer vom 2. November 1810 leitete der preußische Staat zusammen mit anderen Reformgesetzen eine Politik ein, die zukunftsweisend war. Es verpflichtete unter anderem jeden Gewerbetreibenden zur jährlichen Zahlung einer auf ihn fein abgestimmten Gewerbesteuer und führte einen Gewerbeschein ein, der es jedem ermöglichte, auch Ausländern, in Preußen ein Gewerbe zu betreiben. Obwohl es anfänglich Widerstände aus den Reihen der ihrer angestammten Privilegien beraubten Zünfte gab, wurde die preußische Gewerbefreiheit ein Erfolgsmodell, das die Wirtschaft und Gesellschaft an den Standard der fortgeschrittenen westeuropäischen Staaten, besonders Englands, heranführte.
Kontextualisierung
Die Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit 1810
Wolfgang Radtke
Das Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer vom 2. November 1810 ist nichts anderes als ein Steuergesetz und der katastrophalen finanziellen Situation des Staates zur Zeit der Napoleonischen Kriege geschuldet. Verbunden war es mit einer eminenten historischen Folgewirkung, in deren Rahmen Preußen in den Kreis der modernen Industriestaaten aufstieg. Über eine Befreiung der Gewerbetreibenden vom Zunftzwang war zwar bereits früher schon nachgedacht worden. Aber erst auf der Basis eines tief in die altständische Gesellschaft eingreifenden Reformprogramms, das im Wesentlichen von dessen Protagonisten Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg sowie von maßgeblichen Vertretern der hohen preußischen Bürokratie getragen wurde, wurde auch das Gewerbe in diesen Prozess einbezogen. Wenn die Verkündung der Gewerbefreiheit in ein Steuergesetz integriert ist, sagt das viel über die verzweifelte finanzielle Lage des Staates aus, der nach der Niederlage gegen Napoleon und dem Verlust eines großen Teils seines Staatsgebietes unter anderem die drückende Last der Verpflichtung zur Zahlung einer Kriegskontribution in Höhe von 120 Millionen Franc zu tragen hatte. Darüber hinaus setzte die Kontinentalsperre gegen England der preußischen Wirtschaft, die weitgehend in traditionellen Produktionsformen verharrte und gegenüber den fortgeschrittenen westeuropäischen Staaten weit zurückgeblieben war, ökonomisch erheblich zu. Aufgrund dieses Befundes waren die Staatseinnahmen in einer so beängstigenden Weise geschrumpft, dass der unmittelbare Staatsbankrott drohte. Das Gesetz befreite das zunftmäßig gebundene Gewerbe in Gestalt von Handel, Fabriken und Handwerk zum einen aus seinen nunmehr als Fesseln empfundenen überlebten Organisationsformen. Zum anderen war es gleichzeitig als ein wesentlicher Beitrag zur Behebung der finanziellen Not des Staates gedacht, indem nicht nur durch die Lösung der neuen Gewerbescheine Geld in die leeren Staatskassen floss, sondern vor allem auch durch neue indigene Impulse aus den Unternehmungen selbst Wirtschaftskraft generiert werden sollte. Das alte Handwerk musste zugunsten der Möglichkeit freier Gestaltungskraft für Handwerker und Unternehmer auf zeitgemäße Grundlagen gestellt werden. Gleichwohl änderte dieser politische Wille nichts an dem Motiv, dass der Gesetzgeber in der Person des Staatskanzlers Hardenberg vor allem an der Vermehrung der Staatseinnahmen interessiert war. Dieser Umstand hat in der diesbezüglichen lebhaften historischen Debatte dazu geführt, Hardenberg in erster Linie als puren Etatisten zu bewerten und ihm wirtschaftsliberale Überzeugungen, wie sie ein großer Teil der Ministerialbürokratie vertrat, weitgehend abzusprechen.
Diese Auffassung wird heute so einseitig nicht mehr vertreten. Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass die Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1810 ein grundlegender Reformakt für die preußische Wirtschaft und Gesellschaft war. Programmatisch heißt es, dass die vollkommene Befreiung der Gewerbe von ihren drückendsten Lasten, die bereits am Anfang der Reorganisation des Staates zugesagt worden war, dem Gesamtwohl der Untertanen, wie sie hier in der Sprache des Ancien Régime noch bezeichnet werden, diene. Allseits sichtbares Zeichen für diese Neuerung waren die Verpflichtung zur jährlichen Zahlung einer auf jeden Gewerbetreibenden fein abgestimmten Gewerbesteuer und die Einführung eines Gewerbescheines, der jedem, auch Ausländern, sofern sie ihr Gewerbe in Preußen betrieben, das Recht gab, sein Gewerbe fortzusetzen oder ein neues anzufangen. Das sollte im gesamten Staatsgebiet, sowohl in den Städten als auch auf dem platten Lande, gelten, womit die hergebrachte strikte rechtliche Unterscheidung von Stadt und Land auf dem Sektor der Wirtschaft ein für alle Mal beseitigt wurde. Damit fielen jahrhundertealte Schranken, die den Städten das alleinige Privileg verliehen hatten, gewerbliche Produktion auf das Gebiet ihres Stadtrechts zu konzentrieren und ländliche Gewerbe als ›Pfuscher‹ zu verurteilen und von der Obrigkeit untersagen zu lassen. Als eine wesentliche Erleichterung für die gewerbliche Wirtschaft musste auch die neue Regelung gelten, dass in Orten mit verschiedenartigen Gewerken, die zwar zu einer einzigen Gattung gehörten, aber durch je eigenständige Zünfte getrennt waren, nun berufsübergreifend produziert werden konnte. Das heißt, ein Tischler war berechtigt, auf seinen Gewerbeschein auch Stühle herzustellen, und ein Schuhmacher durfte nicht nur Schuhe, sondern ebenso Pantoffeln anfertigen. Auch konnte jeder Gewerbetreibende seinen Wohnsitz wechseln und an einen anderen Ort verlegen, musste aber bei einer dort eventuell höheren Steuerquote den höheren Steuersatz nachzahlen. Es stand aber weder einer Korporation noch einem Einzelnen zu, den neuen Gesetzesbestimmungen zu widersprechen. In bestimmten Fällen waren aber Entschädigungen für alte Rechte nicht ausgeschlossen. Im Allgemeinen durfte der Gewerbeschein niemandem Unbescholtenen verwehrt werden, der beim Magistrat beziehungsweise auf dem platten Lande beim Landrat ein Attest der eigenen örtlichen Polizeibehörde über seinen rechtlichen Lebenswandel vorweisen konnte.[1] Daraufhin fertigten die Regierungen den Gewerbeschein je nach Tarif aus und sandten diesen an die Magistrate beziehungsweise Landräte zusammen mit dem entsprechenden Steuerbescheid. Die Tarife für die Gewerbesteuern waren in sechs verschiedene Klassen unterteilt, beginnend bei der Ersten Klasse mit einem Reichstaler und acht Groschen jährlich für alle Handwerker, die auf Bestellung allein und ohne Gehilfen arbeiteten, und endend mit der Sechsten Klasse, die als jährlichen Höchstbetrag 200 Reichstaler je nach Größe der Betriebe vorsah. Zu diesen gehörten beispielsweise Großbetriebe wie Bauunternehmungen mit Maurern und Zimmerleuten, die in der Regel mehr als 50 Gesellen und Burschen beschäftigten.[2] Zu den größten Städten mit dem höchsten Gewerbesteueraufkommen im damaligen Restpreußen gehörten Berlin, Breslau (Wroc?aw) und Königsberg in Preußen (Kaliningrad), in denen die bedeutendsten Gewerbebetriebe angesiedelt waren.
Die überkommene Gewerbeordnung während der Dominanz des Zunftwesens
Im alten Preußen war das Zunftwesen wie überall im Reich die beherrschende städtische Wirtschaftsorganisation gewesen, obwohl es durch die staatliche Konzessionierung Ausnahmen für die in beträchtlicher Zahl existierenden Manufakturen gegeben hatte. Letztere – vor allem die Seidenmanufakturen – waren besonders in der friderizianischen Ära seit den 1740er-Jahren durch ein großzügiges Bonifikationssystem, das wenig Rücksicht auf eine ausreichende Rendite genommen hatte, gefördert worden. Dabei wurde im Verlagssystem, in dem kaufmännische Unternehmer die ökonomische Verantwortung für die dezentrale Produktion trugen, so gut wie immer mit zunftmäßig gebundenen Handwerkern zusammengearbeitet, die meistens in den Status von Lohnabhängigen herabgedrückt worden waren. Im Übrigen aber dominierte das Zunftwesen sowohl im Alten Reich als auch in Preußen auf der Grundlage der Reichszunftordnung von 1731. So galt bis zur Einführung der Gewerbefreiheit von 1810 für den Rechtsstatus von Handwerkern und Zünften das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (ALR). Über die Zünfte heißt es dort: Wo Zünfte sind, muß jeder, der in der Stadt ein zunftmäßiges Gewerbe treiben will, sich in derselben aufnehmen lassen.[3] Gleichwohl war dem Staat das Recht gegeben, auch im Falle geschlossener – also eigentlich exklusiver – Zünfte nach Befinden der Umstände sogenannte Freimeister zu konzessionieren. Auch sollten neuartige Gewerbe, die bisher noch in keine Zunft oder Innung eingeschlossen gewesen waren, ihren Betrieb weiterhin aufrechterhalten können. Das heißt, es gab bereits in der traditionellen Wirtschaftsverfassung gewisse Lücken im vorherrschenden Zunftwesen. Letzteres wurde allerdings zunehmend als Zwang empfunden, insbesondere dann, wenn dem Neuen gegenüber aufgeschlossene junge Leute ihre eigenen ökonomischen Wege gehen wollten, denen sie möglicherweise in der Zeit ihrer Wanderschaft als Gesellen im westlichen Ausland begegnet waren. Da das Zunftwesen sich seiner rechtlichen Stellung nach im Wesentlichen auf die Stadt und deren je eigenes Stadtrecht konzentrierte, das bei vielen Städten auch in Preußen bis weit in das Mittelalter zurückreichte, war dem Handwerk auf dem Lande so gut wie kein Raum gegeben. Gleichwohl gab es auch dort Handwerker, sogenannte Landhandwerker. Sie waren in der Regel aber gezwungen, sich vom Prinzip her an die Ordnung einer städtischen Zunft zu halten. Das galt auch für diejenigen Landhandwerker, die innerhalb einer städtischen Bannmeile geduldet wurden. Eine Ausnahme auf dem Lande machten nur die unentbehrlichen Maurer, Schmiede, Wagner (Stellmacher) und Zimmerleute, die, ohne einer Zunft anzugehören, dazu berechtigt waren, Gesellen und Jungen zu halten. Im Übrigen wurde das Prinzip durchgehalten, dass das platte Land von der Stadt nicht nur rechtlich, sondern auch ökonomisch separiert war. Auf dem Lande war eine als Kontribution bezeichnete Kopfsteuer zu leisten, während in der Stadt die als Verbrauchssteuer eingeführte Akzise galt. In vielen Städten, so auch in Berlin, trennte eine Akzisemauer den eigentlichen Stadtrechtsbezirk vom Umland.
Ein Dorn im Auge der um ihre Gewerbe- und Handelsmonopole besorgten Städte waren in allen Landesherrschaften des Reiches, also nicht nur in Preußen, die schon erwähnten ländlichen ›Pfuscher‹, die weder einer Zunft angehörten noch sonst in irgendeiner Weise konzessioniert waren. Sie galten als wirtschaftlich schädlich, weil sie die städtisch zwingend vorgeschriebenen Preise in der Regel unterboten und auch den zunftmäßigen Qualitätsnormen nicht gerecht wurden. Über diese wachten in den Städten die eigens bestimmten Zunftmeister, welche bisweilen als Schaumeister bezeichnet wurden, indem sie die Waren ihrer Zunftgenossen auf die vorgeschriebene Qualität hin eingehend prüften und mit einem Schauzeichen versahen. Überwiegend handelte es sich um Webereiprodukte, die meist gehandelte Ware des vorindustriellen Zeitalters. Damit garantierten die Zünfte einen gewissen Standard, auf den in Handelskreisen ausnahmslos unter Aufsicht der Magistrate geachtet wurde. Ähnliches galt für die Verpflichtung der Gesellen, sich zur Erfüllung des mit ihren Meistern geschlossenen Arbeitsvertrages auf Wanderschaft zu begeben und im Reich sowie im übrigen Europa umzuschauen, um nach der Rückkehr in ihrer angestammten Stadt möglicherweise Neuerungen einzuführen und damit innovativ zu wirken. Trotz dieser positiven Merkmale galten die Zünfte am Ende der Zeit des Ancien Régime als gewissermaßen ›versteinert‹. Denn sie waren darauf ausgerichtet, ihr gewerbliches Monopol streng zu wahren und möglichst wenige Neuzugänge in ihren eigenen Reihen zuzulassen, um ihrem stets verfolgten bescheidenen Ziel der Erwirtschaftung einer auskömmlichen ›Nahrung‹, das heißt der Erzielung eines gesicherten Lebensstandards, nachkommen zu können. Auch waren sie in der Regel nicht zur Aufnahme überzähliger Gesellen aus der eigenen Stadt bereit, es sei denn, diese heirateten eine Meisterwitwe und führten den angestammten Betrieb fort. Diese eisernen Prinzipien schadeten selbstverständlich einer Wirtschaft, die auf Einführung von Neuerungen angewiesen gewesen wäre, insbesondere in einer Zeit, als in England bereits die Industrialisierung große Fortschritte machte. Es gab einen gravierenden Überhang an Gesellen ohne Chancen, Meister zu werden. Eine unausweichliche Folge war, dass sich die Gesellen zusammenschlossen und immer wieder zu Streiks bereit waren, um ihre ökonomisch und auch persönlich prekäre Situation zu verbessern, zumal sie in vielen Fällen einem strikten Heiratsverbot unterlagen.
Als Fazit ist festzustellen, dass viele Kräfte brachlagen, die in ein andersgeartetes System zu überführen waren, zumal auch die Gefahr bestand, dass die chancenlosen unterprivilegierten Gruppen den gesellschaftlichen Frieden bedrohen könnten.
Eine eigene Kategorie Gewerbetreibender bildeten nach den Bestimmungen des ALR die Fabrik-Unternehmer und Fabrikanten. Fabriken waren Anstalten, in welchen die Verarbeitung oder Verfeinerung gewisser Naturerzeugnisse im Großen getrieben wird.[4] Die Fabrikunternehmer führten die Anstalt auf eigene Rechnung, während die dortigen Arbeiter als Fabrikanten bezeichnet wurden. Die Erlaubnis zum Betreiben einer Fabrik im Sinne der Erteilung eines Privilegs beziehungsweise einer Konzession behielt sich der Staat vor, nicht ohne die ortsansässige Zunft vorher zu befragen, da die Fabrikunternehmer und Fabrikanten weder dem Zunftzwang noch den Statuten der Zünfte unterworfen waren. Die Fabrikunternehmer besaßen hinsichtlich der von ihnen produzierten Waren kaufmännische Rechte, ohne in eine Kaufmannsgilde aufgenommen werden zu müssen. Dass die Fabriken außerhalb der Zunftordnung standen, ist auch daraus ersichtlich, dass bei ihnen ausgebildete Arbeiter weder die Rechte von Lehrlingen noch die von Gesellen zu beanspruchen hatten, während ein Zunftgenosse in einer Fabrik arbeiten konnte, ohne sein einmal erworbenes Zunftrecht zu verlieren. Somit ist das Fabrikwesen, das seine Ausgestaltung schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gestalt der arbeitsteilig betriebenen Manufakturen gefunden hatte, als ein Element des Übergangs vom Zunftwesen mit seiner Zwangsgewalt hin zu einer freieren Form der Organisation gewerblicher Produktion zu verstehen, ohne dass eine grundsätzliche Gewerbefreiheit bereits eingeführt worden wäre.
Die Gewerbefreiheit im Rahmen der preußischen Reformen
Die Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1810 war nur ein Element im gesamten Reformpaket des preußischen Staates nach der Niederlage gegen Napoleon. Der Untertanenverband in Restpreußen sah sich mit einer ganzen Reihe grundlegender Neuerungen konfrontiert, da sich die gesamte Gesellschaftsformation einschneidend verändert hatte. Die alte ständische Gesellschaft wurde in letzter Konsequenz aufgehoben. So leitete die Beseitigung der Gutsuntertänigkeit im Jahre 1807, bekannter unter dem Begriff der Bauernbefreiung, einen Prozess ein, der mit der Kassierung der Patrimonialgerichtsbarkeit im Rahmen der Revolution von 1848/49 seinen vorläufigen Abschluss fand. Zunächst wurden die Rechte der Gutsherren gegenüber ihren ehemaligen bäuerlichen Gutsuntertanen nur eingeschränkt, schließlich aber ganz aufgehoben. Gleichwohl konnten die Gutsbesitzer eine Vielzahl von angestammten Privilegien wahren und bildeten immer noch so etwas wie einen Leitstand in der sich neu formierenden postfeudalen preußischen Gesellschaftshierarchie.
Ähnlich einschneidend war auf dem Sektor des Städtewesens die neue Städteordnung von 1808, die nicht nur einen Elitenwandel in der Stadtgesellschaft einleitete, sondern mit der breit angelegten Verleihung der Bürgerrechte großen Teilen der städtischen Gesellschaft die Teilnahme an der Gestaltung des Gemeinwesens ermöglichte. Die Handlungsspielräume und Eingriffsmöglichkeiten der staatlichen Bürokratie wurden nach Abschaffung des Amtes des Steuerrates dagegen drastisch reduziert, der berechtigt gewesen war, den staatlichen Willen zwingend durchzusetzen. Das erklärte Ziel der Reformer bestand darin, in der Stadt einen Gemeinsinn aller Bewohner in durchaus liberalem Geist zu etablieren und damit Kräfte freizusetzen, die das Städtewesen im Gesamtstaat modernisierten und zukunftsfähig machten. Schließlich ist neben der grundlegenden Reorganisation der Staatsbürokratie auf Ministerialebene und in den Provinzen abschließend das Emanzipationsedikt für die preußischen Juden von 1812 zu erwähnen: Die Integration der Juden in Stadt und Land wurde zu einem unverzichtbaren Baustein in der sich neu etablierenden Gesellschaftsordnung.[5]
Aber trotz aller Bemühungen gab es im Rahmen einer flächendeckenden politischen und bürokratischen Umsetzung des Gesamtprogramms des preußischen Reformwerkes gravierende Probleme nicht nur hinsichtlich der Organisation, sondern durchaus auch mentale Widerstände aus den Reihen derjenigen, die von den Reformen betroffen waren und die eigentlich davon profitieren sollten. Sie waren nämlich gezwungen, ihre traditionellen Lebensformen aufzugeben. Dadurch sahen sie insbesondere ihre gewohnte und althergebrachte soziale Sicherheit bedroht, da diese in Zukunft immer der Konkurrenz Außenstehender, auch Stadtfremder, ausgesetzt sein würde. Es galt fortan nicht mehr der Grundsatz der auskömmlichen ›Nahrung‹ in einem exklusiven und begrenzten korporativen System, das auch dem weniger Tüchtigen eine Existenzgrundlage geboten hatte. Stattdessen konnten alle ihrer Fesseln entledigten Gewerbetreibenden nach eigenen ökonomischen Prinzipien schalten und walten und mögliche Konkurrenten beiseite drängen, vielleicht sogar in den Ruin treiben. An die alte, traditionsgebundene Stelle der Privilegien trat das liberal gedachte freie Spiel der Kräfte, wie es einst von dem schottischen Nationalökonomen Adam Smith vorgedacht und in England verwirklicht worden war. Quasi in einer Aufholjagd war die preußische Ministerialbürokratie bestrebt, den ökonomischen Rückstand aufzuholen und zu egalisieren. Ihr Rüstzeug dafür hatten die Beamten auf der Königsberger Universität erworben, an der eine lupenreine liberale Theorie gelehrt wurde. Wichtigster Protagonist dieser Lehre war der Kameralist Christian Jakob Kraus.
Zunächst wurde zeitnah ein Folge- und Ausführungsgesetz unter dem Titel Gesetz über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe vom 7. September 1811 erlassen, das neben der Aufhebung des Zunftzwanges die Einführung von Handwerksbetrieben liberalisierte, ohne dass der neue Betrieb von einem Meister geführt werden musste und ohne dass Gesellen und Lehrlinge, die jetzt lediglich Arbeiter waren, korporativen Normen unterlagen.[6] Die Resonanz der Betroffenen, sowohl die der kommunalen lokalen Amtsträger als auch die der Handwerker, war zwiespältig. Stimmen wie etwa die des dem Gesetz gegenüber aufgeschlossenen Potsdamer Polizeidirektors machen das deutlich. Dieser äußerte sich 1812 gegenüber dem Departement für Handel und Gewerbe in der Weise, dass die allgemeine Stimmung unter den alteingesessenen Handwerkern gegenüber den Neuerungen kritisch und nicht zu überhören sei. Die wohltätigen Folgen der Gewerbefreiheit würden nicht so, wie vielleicht erwartet, sofort in die Augen springen, da der alte Zunftgeist dem mächtig entgegenwirke. Denn die zünftigen Meister hielten zunächst an ihren Korporationen fest, die sie für besser hielten als die neuen Handwerksbetriebe, die von Personen betrieben würden, welche ihr Gewerbe nur auf Basis der Lösung eines Gewerbescheins etabliert hätten.[7] Gerade in diesen Kreisen war nach Aussage des Polizeidirektors nichts von einem liberalen Geist zu spüren!
Historischer Kontext und Bewertung
Das Gesetz vom 2. November 1810 über die Gewerbefreiheit ist insofern eine Schlüsselquelle, als es zusammen mit den übrigen Reformgesetzen zu den wichtigsten Bausteinen für die grundlegende Reorganisation der preußischen Wirtschaft und Gesellschaft zählt. Trotz der anfänglichen Widerstände aus den Reihen der ihrer angestammten Privilegien beraubten Zünfte wurde die preußische Gewerbefreiheit ein Erfolgsmodell, das Preußen im Rahmen einer beispielhaften Industrialisierungspolitik neben England zu einer der ökonomisch führenden Kräfte in Europa heranwachsen ließ. Dennoch blieb der Weg dahin steinig, da noch einige Jahrzehnte nach der weitsichtigen Einführung der Gewerbefreiheit immer wieder konservative Stimmen laut wurden, die dem Handwerk zugunsten einer strengeren Regulierung des Gewerbes Fesseln anzulegen versuchten.
[1] Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer vom 2. November 1810, in: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten, Berlin [1810], S. 79–87, Nr. 9, hier S. 83 (§ 19).
[2] Tarif, nach welchem, in Gemäßheit des Edikts vom 2. November 1810, die Gewerbe-Steuern zu bestimmen sind, in: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten, Berlin [1810], S. 87–94.
[3] Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliografie von Günther Bernert, 2. erw. Aufl., Neuwied u. a. 1994, S. 464.
[4] Ebd., S. 775.
[5] Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate. Vom 11ten März 1812, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Berlin [1812], S. 17–22, Nr. 5.
[6] In: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Berlin [1811], S. 263–280.
[7] Zitiert nach Ernst Klein, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 16), Berlin 1965, S. 114.
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Quellen & Literatur
Quellen
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliografie von Günther Bernert, 2. erw. Aufl., Neuwied u. a. 1994.
Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Berlin [1810–1812].
Literatur
Otto Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/NewYork 1992.
Ernst Klein, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 16), Berlin 1965.
Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 7), Stuttgart 1967.
Ilja Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806–1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus. Mit einer Einführung von Wolfram Fischer und Otto Büsch (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 20, Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung, Bd. 1), Berlin 1965.
Barbara Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810–1820) (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 57), Göttingen 1973.
Empfohlene Zitierweise
Wolfgang Radtke, Die Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit 1810, in: 100 Schlüsselquellen zur Geschichte von Berlin, Brandenburg und Preußen, URL: www.hiko-berlin.de/Gewerbefreiheit-1810 [abgerufen am: TT. Monat JJJJ]. Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Textes die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.